Wiener Datenbank zur Europäischen Familiengeschichte
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Die
Geschichte der Datenbank
von Josef Ehmer
Die
quantifizierende historische Familienforschung begann in Österreich ziemlich genau
vor zwanzig Jahren. In den Sommerferien des Jahres 1972 stieß Michael
Mitterauer, der ein Jahr zuvor Professor für Sozialgeschichte an der
Universität Wien geworden war und bereits eine Vorlesung zur
‚Geschichte der Familie’ angeboten hatte, eher zufällig im Archiv
der Pfarre Berndorf, einer kleinen bäuerlichen Gemeinde nördlich von Salzburg,
auf einen ‚Liber status animarum’ aus dem Jahr 1649 (Michael Mitterauer,
Historisch-anthropologische Familienforschung, Wien 1990, 10; zur Entwicklung
der historischen Familienforschung vgl. Michael Mitterauer und
Zu diesem
Zeitpunkt war noch kaum einem Historiker im deutschen Sprachraum bewusst, dass 1972 auch auf
internationaler Ebene der Durchbruch der quanti-fizierenden
historischen Familienforschung, und insbesondere der statistischen Auswertung
von Personenlisten, erfolgte. In diesem Jahr veröffentlichten Peter Laslett und Richard Wall den Band ‚Household and Family in Past Time’ (Cambridge 1972), der auf die weitere
Forschung einen enormen Einfluss ausüben sollte: in Hin-blick auf Fragestellungen, Begriffe
und Methoden. Die Untersuchungen von Laslett und
seiner Kollegen basierten auf einer Sammlung von englischen Personen-standslisten,
die sie seit 1964 in der von ihnen gegründeten ‚Cambridge Group for
the History of Population
and Social
Structure’ angelegt hatten, und stellten
zugleich den Versuch dar, diesen Quellentypus zur Grundlage eines breiten
internationalen und historischen Vergleichs zu machen. Derartige
Bevölkerungslisten schienen den Historikern oder historisch interessierten
Sozialwissenschaftlern ein exzellentes Instrumentarium für ‚statistical comparisons of household size and
composition between cultures and across centuries’ in die Hand zu geben, wie es John Hajnal (John Hajnal, Two Kinds of Preindustrial Household Formation Systems, in: Richard Wall (ed.), Family Forms in Historic Europe, Cambridge 1983, 99) etwas später
ausdrücken sollte, und sie schienen es endlich zu ermög-lichen,
die Debatten über die Geschichte der Familie auf ‚harte
Daten’ zu gründen.
1972
erschien aber auch ein Aufsatz des amerikanischen
Sozialhistorikers Lutz K. Berkner, der die
methodischen Probleme statistischer Querschnittsanalysen thematisierte (Lutz K.
Berkner, The Stem Family and the Developmental Cycle of the Peasant
Household: an Eighteenth-Century
Austrian Example, in:
American Historical Review
77, 1972, 398-418). Die folgenden Jahre des Booms der Auswertung historischer
Bevölkerungsverzeichnisse wurden damit von quellen- und methodenkritischen
Diskussionen durchaus begleitet (vgl. insbesondere Lutz K. Berkner,
The Use and Misuse of Census Data for the
Historical Analysis of Family
Structure: a Review of Household and Family in Past Time, in: Journal of Interdisciplinary
History 7 (1975), 721-738; sowie das Themenheft
‚Historische Familien-forschung und
Demographie’ im ersten Jahrgang von ‚Geschichte und
Gesellschaft’ (1975)). Sie hatten allerdings erstaunlich wenige
Auswirkungen auf die konkrete Durchführung der empirischen Forschung, wie z.B.
die Operationalisierung der Fragestellungen,
die Formen der Datenaufnahme, etc. In diesen Jahren der Euphorie über den
gefundenen ‚Königsweg’ sozialwissenschaftlich orientierter,
quantifizierender und international vergleichender Geschichtsforschung und die Volkszählungs-listen als seine Massenbasis beeinflussten
kritische methodische Reflexionen die praktische Forschung nur zu einem
geringen Teil.
Wer sich in
jener fernen Epoche mit der Auswertung historischer Massenquellen beschäftigte,
hatte sich aber auch harte Arbeit vorgenommen. Papier und Bleistift waren die
wichtigsten Werkzeuge des Historikers geblieben, und wer die elektronische
Datenverarbeitung ins Auge fasste, sah sich in den Rechenzentren der Uni-versitäten mit riesigen, unhandlichen Maschinen zum
Stanzen und Lesen von Lochkarten konfrontiert. 1972, das war auch das Jahr, in
dem der amerikanische Computerwissenschaftler Alan Kay den Begriff des
‚personal computer’ kreierte: Seine
utopische Vision, dass eines Tages ein Mensch einen Computer für sich
allein besitzen könne, amüsierte die Fachwelt (Klemens Polatschek, Wer druckt, lebt in der Vergangenheit, in: Die
Zeit vom 26.6.1992, 54). Immerhin war seit einem Jahr Edward Shorters ‚The Historian and the Computer’
(Toronto 1971) auf dem Markt, das einige Anregungen bot, wie man die diffusen
Informationen historischer Quellen in jene sauberen, eindeutigen und rechteckig
angeordneten Zahlenreihen umwandeln konnte, ohne die, wie es schien, Computer
und Programme nicht in Bewegung zu setzen waren.
Die Impulse,
die von der internationalen Familienforschung und Computeranwendung ausgingen,
fielen in Wien auf fruchtbaren Boden. Nachdem Michael Mitterauer festgestellt
hatte, dass Quellen vom Typ der Personenstandslisten in Österreich in überaus
großer regionaler und zeitlicher Streuung überliefert
worden waren, richtete er in den Jahren 1974 - 1978 ein erstes
Projekt zur Erforschung des ‚Strukturwandels der Familie in Österreich
vom 17. bis zum 20. Jahrhundert’ ein. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern
Jean-Paul Lehners, Peter Schmidtbauer und
In der
zweiten Hälfte der 1970er Jahre gelang es Mitterauer, seine
familienhistorischen Forschungen in mehrfacher Hinsicht auszuweiten. Ein von
der Stiftung Volks-wagenwerk in den Jahren 1977 -
1981 gefördertes Projekt ‚Strukturwandel der Familie im europäischen
Vergleich’ führte die Sammlung und Auswertung von Bevölkerungslisten über
die Grenzen Österreichs hinaus. Das Projekt setzte sich zum Ziel, Quellen dieses
Typs aus möglichst vielen und verschiedenartigen europä-ischen
Regionen zu verarbeiten und zu vergleichen. Der verantwortliche Mitarbeiter
dafür war der Verfasser dieser Zeilen - die folgenden
kritischen Hinweise auf Probleme und Mängel der Datenbank sind daher vor allem
als Selbstkritik anzusehen. Darüber hinaus etablierte sich eine dauerhafte
Kooperation zwischen der Wiener Forschungsgruppe, dem Max-Planck-Institut für
Geschichte in Göttingen, der Cambridge Group for the History
of Population and Social Structure
und einer Reihe von familiengeschichtlich arbeitenden Historikerinnen und
Historikern in verschiedenen europäischen Ländern. Ein interdisziplinärer Forschungsschwer-punkt der Österreichischen
Rektorenkonferenz "Familie im sozialen Wandel" bezog neue Quellen und
Methoden der familiengeschichtlichen Forschung ein, vor allem Erinnerungsinterviews
(‚oral history’) und in der Folge auch
schriftliche Autobiographien.
Auch in der
quantifizierenden Forschung fanden wichtige Veränderungen statt. In den späten
1970er Jahren begann der aus Graz kommendem Historiker Manfred Thaller am Wiener Institut für Höhere Studien seine
Arbeiten an der Entwicklung einer spezifischen Methodologie der
Computeranwendung in den historischen Wissenschaften. Er entwarf für das
Forschungsprojekt über den Strukturwandel der europäischen Familie ein neues,
flexibles System der Datenaufnahme, das freie Formate, eine quellennahe Eingabe
und die Verarbeitung verbaler Informationen gestattete. Gegenüber den
numerischen, vorkodierten und rechteckigen Formaten der ersten Projektphase
bedeutete dies eine norme methodische Innovation. Auf ihrer Grundlage wurde in
den Jahren 1979 - 1984 eine zweite, nunmehr Samples aus mehreren europäischen
Ländern umfassende, Sammlung von Personenstandslisten maschinenlesbar gemacht,
und in die ‚Wiener Datenbank zur europäischen Familiengeschichte’
integriert. Die vorliegende Edition umfasst diesen Teil der Datenbank.
Trotz dieser
Innovationen blieb die Datenverarbeitung mit methodischen Mängeln behaftet, die
auch noch die Auswertung der vorliegenden Datensätze erschweren. Dies betrifft
zunächst die Auswahl der Samples. Da in den Anfängen der quantifizierenden
historischen Familienforschung die Meinung vorherrschte, dass vollständig
überlieferte Urmaterialien von Personenzählungen sehr selten vorkämen,
und dass eine jede aufgefundene Quelle dieses Typs eine Bereicherung des Erkenntnis-standes versprach, wurde mit großer Begeisterung
alles maschinenlesbar gemacht, was sich schon nach den ersten Recherchen in
Archiven der großen europäischen Städte fand. Erst im Lauf des Projekts wurde
sichtbar, dass Personenstandslisten in einer so breiten Streuung quer durch
Europa zu finden sind, dass eine systema-tische
Auswahl der Samples durchaus möglich gewesen wäre. Die vorliegende Auswahl von
Datensätzen wurde also nicht nach systematischen Kriterien getroffen, sondern
ist von den Zufällen der Archivrecherchen und spezifischen Lokal- und
Regionalinteressen einzelner Projektmitarbeiter bestimmt.
Auch Größe
und Umfang der Samples folgen nicht einheitlichen und systematischen Kriterien.
Landgemeinden, Märkte und kleinere Städte sind in der Regel vollständig
aufgenommen. Für große Städte wie Rom, Wien, Zürich und Zagreb wurden jedoch
nur Stadtteile erfasst: zum Teil Pfarren oder Bezirke, zum Teil wurden aber die
Grenzen des aufgenommenen Gebiets willkürlich - entsprechend den vorhandenen
zeitlichen und finanziellen Forschungsressourcen - gezogen. Die Benützer der Datensätze werden
gut daran tun, sich an Hand der Straßen- oder Viertelbezeichnungen zu
vergewissern, welche Stadtgebiete die von ihnen verwen-deten
Quellen jeweils umfassen. Auch das gewählte Eingabeformat enthält ein Problem.
Jede Informationsgruppe ‚Person’ wird darin durch die
Haushaltsstellung der Person eingeleitet. Diese Eingabekonvention schien
inhaltlich sinnvoll zu sein, da in den Fragestellungen der Projekte die
Haushaltsstellung einen höheren strate-gischen
Stellenwert einnahm, als alle anderen Merkmale. Sie zwang allerdings dazu,
schon im Prozess der Dateneingabe jeder Person tatsächlich eine Haushalts-stellung zuzuweisen, unabhängig davon, ob diese
in den Quellen auch explizit angeführt war. Dies war zwar in der Regel der
Fall, mitunter stellt die Haushaltsstellung aber bereits eine Interpretation
der Bearbeiter dar. Als letztes Beispiel methodischer Probleme sei auf die
gewählte Berufssystematik verwiesen. Sie stellt den Versuch dar, sowohl
zwischen Wirtschaftssektoren als auch zwischen verschiedenen Produktionsweisen,
vor allem zwischen handwerklich-kleingewerblicher Produktion und Lohnarbeit zu
differenzieren. Die große zeitliche und regionale Erstreckung der Datensätze
widerspricht allerdings einer einheitlichen Systematik: wenn ein bestimmter
Beruf z.B. in Zürich 1647 als typisch für
handwerkliche Produktionsverhältnisse angesehen werden kann, so muss das
natürlich nicht auch für eine römische Pfarre des Jahres 1906
zutreffen.
Diese
Hinweise sollten allerdings niemanden von der Benutzung abschrecken. Die
bisherige Forschungspraxis hat zweifelsfrei gezeigt, dass – bei allen
ihren Mängeln - die vorliegenden Datensätze gerade wegen ihrer zeitlichen und
räumlichen Streuung ein enormes Potential für eine Vielfalt sozialstruktureller
und familiengeschicht-licher Fragestellungen in
vergleichender – aber durchaus auch lokalhistorischer - Perspektive
bieten. Ihre Aussagekraft wurde bisher in keiner Weise ausgeschöpft. Ihre
Benützung erfordert aber denselben quellenkritischen Zugang wie jede andere
Quelle auch.
Dass diese
Datensätze nunmehr überhaupt publiziert werden, ist das Verdienst von Annemarie
Steidl und Heinz Berger. Sie haben die Daten soweit geprüft, gereinigt, systematisiert
und dokumentiert, dass sie auf die vorliegende Weise veröffentlicht werden
können. Die Zeit, Energie und Begeisterung, die sie diesem Projekt gewidmet
haben, wurde durch die verfügbaren finanziellen Unterstützungen auch nicht annähernd
abgegolten. Ihnen gebührt aller Dank für das Zustandekommen dieser Edition.
Für alle Fragen und Anregungen senden Sie bitte eine E-mail
an
annemarie.steidl@univie.ac.at
oder heinrich.berger@univie.ac.at